Magie gegen Teufelswerk – Die Merseburger Zaubersprüche

Zaubersprueche_ganz klein

Manche Dinge sträuben sich geschickt gegen das Vergessenwerden, indem sie immer wieder aufpoppen, unvermutet, in unterschiedlichen Zusammenhängen und über Jahrzehnte hinweg. Was mich betrifft, gehören zu diesen Dingen die Merseburger Zaubersprüche.

Der Erstkontakt erfolgte vor einer halben Ewigkeit durch einen Dozenten, der uns von den Zaubersprüchen als den ältesten germanischen und bis heute erhaltenen Schriftfragmenten erzählte. Ich erinnere mich deshalb noch so gut, weil ich die Sache außerordentlich witzig fand, würde man bei einem Dokument aus einer Zeit, in der das Schreiben mit einem hohen Bildungsgrad und handwerklichem Können verbunden war, thematisch zunächst doch etwas anderes erwarten. Beispielsweise die Huldigung einem Herrscher oder zumindest einer Herzensdame, ein Heldenepos vielleicht, oder eine tragische Familiengeschichte wie etwa im Hildebrandslied. Jedoch nichts dergleichen in diesem Fall. Die Merseburger Zaubersprüche sind vielmehr ein Zeugnis damaliger Methoden der Krisenbewältigung, mit ihnen soll man nämlich kranke Pferdefüße heilen und Gefangene befreien können!

Meine zweite Begegnung mit den Zaubersprüchen geschah viele Jahre später auf dem Weg zur Ostsee. Im Vorbeifahren las ich „Merseburg“ auf einem Autobahnschild und schlug einen Abstecher vor, um mir die Zaubersprüche mal im Original anzusehen. Wie sich herausstellte, hatte der beste Ehemann von allen, immerhin ein Magister Artium der Germanistik, keine Ahnung wovon ich redete, woraufhin er ein paar spöttische Bemerkungen meinerseits erdulden musste. Etwas gekränkt schilderte er, wie er einst, in der Badewanne liegend, stundenlang mittelhochdeutsche Grammatik gepaukt hatte, wohingegen ich in meiner Ausbildung von solchen Mühen verschont geblieben war und meine hämische Herablassung deshalb eine Unverschämtheit sei. Damit hatte er natürlich recht. Wir verzichteten damals auf einen Abstecher nach Merseburg, nicht als Strafe für meine kleine Überheblichkeit, sondern weil wir noch eine lange Strecke vor uns und ein Kind auf dem Rücksitz hatten.

 

Blick auf die Türme des Merseburger Dom- und Schloss-Ensembles

Letztes Jahr – Reisen ins Ausland waren coronabedingt nicht ratsam – fiel mir diese Begebenheit wieder ein und so entschlossen wir uns, den Abstecher nach Merseburg nun nachzuholen. Ich war begeistert: Von dem hübschen Städtchen, das zwar fünfmal kleiner ist als Regensburg, wo aber trotzdem eine moderne Straßenbahn fährt. Von dem wunderschönen Schloss und dem imposanten Dom mit Klosteranlage und natürlich von den Zaubersprüchen. Endlich, nach über dreißig Jahren, konnte ich sie in echt betrachten. Nun ja, tatsächlich war es nur ein Faksimile, denn das Original liegt irgendwo im Dunkeln, damit es noch weitere tausend Jahre erhalten bleibt. Aber ich war trotzdem sehr zufrieden und hab mir ein schönes Bild der Zaubersprüche gekauft, das seitdem nutzlos zu Hause herumlag. Bis neulich.

Nachdem ich wieder einmal einen Bericht über Julian Assange gelesen hatte und wie man ihn langsam aber sicher in seiner Isolationshaft verrotten lässt, reifte in mir eine Idee. Ich stellte neben ein Foto von Julian das Bild mit den Zaubersprüchen und dekorierte ein paar Blümchen und eine Kerze dazu. Dann überredete ich den besten Ehemann von allen, sein schönstes Mittelhochdeutsch hervorzukramen und die Zaubersprüche zu rezitieren. Dabei hoffte ich, dass das Mittel- dem Althochdeutschen einigermaßen ähnlich ist, damit  zumindest die Passage zur Befreiung von Gefangenen gut genug rüberkommt. Hört euch das Ergebnis mal an:

Ich finde, der Herr Magister hat seine Sache sehr gut gemacht und die Paukerei von damals war keinesfalls umsonst. Wir handhaben das jetzt einfach so wie mit den buddhistischen Gebetsmühlen, bei denen das Drehen der Mühle als Gebet gilt. Ich klicke jetzt ein paar Wochen lang täglich auf den Start-Button der obigen Audiodatei, wodurch jedesmal der Zauberspruch abgespielt wird. Wer mag, kann es mir gerne gleichtun.

Wir schreiben heute den 1. März 2021. Sollte Julian Assange in den nächsten Wochen nun tatsächlich frei kommen, müsste meine bisherige Ansicht revidieren, dass es sich bei Magie und Zauberei nur um Firlefanz handelt. Aber das ist mir die Sache wert – allemal besser als das ratlose Entsetzen über das Teufelswerk, das in der Sache Assange betrieben wird.

Und nebenbei heilen wir vielleicht sogar noch ein paar Pferdefüße.

Externe Bildrechte:
Ansicht Merseburg:
Autor: Jwaller, Copyright siehe: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:MerseburgDomschlo%C3%9Fblick.JPG
Julian Assange:
Autor: David G. Silvers, Ausschnitt, Copyright siehe: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Julian_Assange_and_Ricardo_Pati%C3%B1o_August_2014.jpgs

Schreibe einen Kommentar